Strukturen des Immateriellen

Zu den Arbeiten von Marlies Langenhorst

„Struktur“ ist ein Allerweltswort im besten Sinn. Die größten und die kleinsten Zusammenhänge unserer Welt und unseres Lebens lassen sich als „Struktur“ beschreiben. Die Künstlerin Marlies Langenhorst setzt jedoch weder bei mathematischen oder elektronischen, noch bei grammatischen, noch bei ökonomischen oder gesellschaftlichen, noch bei psychologischen oder gar Tiefen-Strukturen an. Vielmehr sind es die Muster und Strukturen an der Oberfläche der Dinge und Materialien, aber auch von Pflanzen, denen die Künstlerin nachspürt.

Suchen und Aufspüren sind erste Tätigkeiten eines künstlerischen Prozesses, der nicht auf das Nachahmen oder gar Abbilden vorhandener Strukturen zielt, sondern darauf, neue Strukturen zu schaffen. Ihre Bilder und Objekte bieten meist Teilansichten, Fragmente, Anschnitte. Ohne Rahmen und Grenzen zeigen sie offene Systeme, die im Begriffe scheinen, ins Endlose zuwachsen und zu vernetzen. Diese Anmutung der einzelnen Arbeiten führt die Künstlerin fort im Arrangement ihrer oft kleinformatigen Werke. Unsichtbare Fäden sollen sich spinnen zwischen den Arbeiten auf einer Wand oder in einem Raum: Wer auch immer sie betrachtet, wird andere Konstrukte erkennen oder herstellen. In den Bildern und Objekten materialiter ausgearbeitete und gezeigte Strukturen gehen in der Wahrnehmung des Betrachtenden über ins Immaterielle.

Weder in ihren künstlerischen Techniken, noch in der Wahl der Bildträger und Materialien legt sich die Künstlerin fest: Malerei, Zeichnung und Fotografie sollen ihr ebenso zur Hand gehen wie Sprühen, Cutten, Collage oder Frottage. Darüber hinaus nutzt sie die Charakteristika von Leinwand, Dibond, Holz oder Papier für die je eigene Wirkung ihrer Arbeiten. Eine Technik jedoch ist maßgeblich: das Malen in Schichten, Lage über Lage, Schicht über Schicht trägt die Künstlerin auf, parallel arbeitend an mehreren Bildern und Objekten, immer im Dialog mit dem Unfertigen, mit offenen Ende. Die Schichtenmalerei als permanenter Wandel von Zeigen und Verbergen, von Oben und Unten, von Innen und Außen ist geradezu prädestiniert für die Transformation des Materiellen ins Uneindeutige, ins Nicht-Greifbare, ins Geheimnisvoll.

Wie die Strukturen des Marmors oder die Adersysteme unter unserer Haut sind diese Arbeiten zugleich unikal und individualisiert und scheinen sich doch zu verflüchtigen wie das Glitzern einer Wasseroberfläche oder ein Wetterleuchten. Viele Arbeiten von Marlies Langenhorst scheinen den Prinzipien serieller Kunst zu folgen, weder eignet ihnen jedoch das Identische der einzelnen Elemente, noch das Starre der Komposition. Die Naturähnlichkeit der Formen und Strukturen, gerade nicht seriell, sonder als unzählige Variationen von Grundformen, stattet diese Arbeiten mit einem Assoziationspotenzial aus, das naturwissenschaftliche (Mikroskop), medizinische (CT, Röntgen), astronomische (Sternenhimmel) Bildwelten ebenso aufruft wie diejenigen industrieller Serienproduktion oder natürlicher Strukturen, seien sie nun organisch oder floral.

Es ist diese Vieldeutigkeit in den Arbeiten von Marlies Langenhorst, die unser Betrachten immer ablöst vom Gesehenen. Durch diese Werke scheinen die Strukturen des Immateriellen in opaker Transparenz.

Dr. Herman Ühlein, anlässlich der Ausstellung „First White“, März 2012

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